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Kapitel 5 (h)
5.2.4 Evolution im Kollektiv
Auch wenn an der Spitze jedes freien Software-Projekts ein oder mehrere Führungspersonen stehen, so heißt das nicht, daß allein von ihnen sein Werdegang bestimmt wird. Vielmehr gleicht der Entwicklungsprozeß einer freien Software der natürlichen Evolution, die sich an die vorhandene Umgebung anpaßt. Ihr Weg ist nicht vorherbestimmt, weil sie weder von einem zentralen Organ entwickelt noch kontrolliert wird. Die Art der Entfaltung manch freier Software gefällt dem einen mehr, dem anderen weniger. Aber derjenige, dem sie weniger gefällt, hat zumindest die Chance, sie nach eigenen Bedürfnissen anzupassen.
Ausgeklügelte Methoden, Studien und Konzepte sind in der freien Softwareentwicklung kaum zu entdecken. Viele Phasen der traditionellen Herstellung, wie sie in Abschnitt 5.1 beschrieben wurden, werden einfach übersprungen. Statt exakter Planung bedient man sich des Just-in-Time-Verfahrens. Es wird das entwickelt, was gerade benötigt wird. Hat man im Augenblick Bedarf nach der Analyse von Textdateien, so wird eben ein Parser geschrieben, der sich einfach in das vorhandene, modulare Design einfügen läßt. Das Grunddesign ist eines der wenigen Dinge, die sehr wohl nach einer genauen Planung verlangen.
"While coding remains an essentially solitary activity, the really great hacks come from harnessing attention and brainpower of entire communities." - Eric Raymond
Ganz unabhängig von Finanzen ist ein Open-Source-Projekt trotz ihrer meist unentgeltlich arbeitenden Mitgliedern nicht. Bisher behalf man sich mit Spenden und Geldern von interessierten Sponsoren. Auch die Unterstützung von Regierung und Forschung, sowie der Verkauf von Software, Dokumentation und Souvenirs brachte ein wenig Geld. In letzter Zeit bezahlen mehr und mehr Firmen ihre Angstellten, um freie Software zu entwickeln.
Die letzten Abschnitte haben gezeigt, daß die Open-Source-Softwareentwicklung enorme Vorteile aber auch Schwierigkeiten mit sich bringt, die aus einer riesigen Entwickler- und Benutzergemeinde herrühren. Wenn das Projekt ein großes Potential und einen hohen Gebrauchswert besitzt, dann wird es gelingen, menschliche und technische Ressourcen mit Hilfe des weltumspannenden Internet in einem Maße zu erschließen und zu kollektivieren, wie es nur der freien Software vorbehalten ist. Raymond spricht hier von der "Noosphäre", die Sphäre menschlichen Gedankenguts und Ideen, die eingefangen werden muß. Je mehr Wissen und Ideen beigetragen werden, je mehr Augen auf den Quellcode eines Programms schauen und je mehr Anwender es benutzen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß die Software anwendernah gedeiht, innovativer und stabiler wird. Das Internet ist dazu die ideale Plattform; mit ihr wächst auch die Menge freier Software. Eine Evolution im Kollektiv.
5.3 Eine Mischform für die Zukunft?
Es wäre eine herausfordernde Aufgabe für die Zukunft, die Vorteile von zwei so unterschiedlichen Entwicklungsmodellen zu einem neuen Konzept zu verbinden, bauen sie doch auf völlig verschiedenen sozialen, wirtschaftlichen und technischen Grundlagen auf. Bei einer Mischform wird unweigerlich einer der Parteien, die Industrie oder die freie Software-Gemeinde, mehr als die andere profitieren. Es wird von Bedeutung sein, wie das Modell zu verändern ist, wenn ein Softwarekonzern eine proprietäre in eine erfolgreiche, freie Software umwandeln möchte, wie es in Zukunft noch öfter geschehen wird. Netscape war jedenfalls mit der einfachen Übertragung des Open-Source-Modells auf das Mammut-Projekt Mozilla nicht sonderlich erfolgreich. Die monolithische Software-Architektur von Mozilla ließ sich nicht an eine verteilte Entwicklergemeinde anpassen, und auch die Lizenz NPL war und ist umstritten.
Scheinbar sind von Beginn an als freie Software konzipierte Projekte erfolgreicher, sogar wenn sie hauptsächlich aus der Feder eines Unternehmens stammen. Aber Softwareentwicklung ist nicht alles. Vielmehr könnte im Support- und Servicebereich eine gedeihende Kooperation zwischen Industrie und Open-Source-Gemeinde entstehen. Wartung und Pflege einer Software beansprucht bekannterweise zwei bis viermal soviel Aufwand wie die Entwicklung.
Daß Open Source bisher fast ausschließlich im Linux/Unix-Sektor praktiziert wird, liegt an der Offenheit dieser Systeme. Auch bei proprietären Unix-Derivaten sind Schnittstellen dokumentiert und Standards offen. Microsoft und Apple ersticken durch die Geheimhaltung ihrer Quelltexte und der Dokumentation ihrer Schnittstellen in den Systemen Windows und MacOS die Entfaltung einer freien Software-Gemeinde im Keim. Und es ist unwahrscheinlich, daß sich dieses in Zukunft ändern wird.
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